Der künstliche Mensch

Bildquelle: pixabay
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Zur Zeit wird viel über Künstliche Intelligenz (KI) gesprochen. Überhaupt drängt sich beim Menschen seit langer Zeit der Wunsch auf, einen künstlichen Menschen zu schaffen.

Dieses Motiv findet sich in der Literatur wieder: Golem (12.Jhd.), Frankensteins Monster (Shelley, 1818) oder der Homunkulus (Goethe,1832), um nur einige frühe Beispiele zu nennen. Mit den aktuellen Entwicklungsschritten der KI scheint man diesem Ziel nun einen großen Schritt näher gekommen zu sein. Das Thema ist derzeit Dauerbrenner.
Ich frage mich aber: Sind wir nicht schon soweit? Allerdings mehr vom anderen Ende her gedacht.
Ist der biologisch-natürliche Mensch nicht längst eine Art Roboter?

Neulich bin ich in einer Innenstadt gewesen. Dabei habe ich mir in der Bahn, auf den Plätzen, in einer Bibliothek und in einem Einkaufszentrum ausführlich Zeit gelassen, die Menschen zu beobachten. Auffällig ist: Fast alle haben diese In-Ear-Kopfhörer in beiden Ohren oder monströs große Kopfhörer auf dem Kopf. Von den jungen Menschen so gut wie alle.

Als in der Bahn ein Rentnerpärchen beginnt, sich zu unterhalten, schrecke ich auf: Was stimmt hier nicht? Dann beruhige ich mich wieder, nur die Ungewöhnlichkeit hat mich erschreckt. Es dauert sehr lange, bis ich junge Menschen sehe, die sich auf konventionelle, althergebrachte Art unterhalten. Es scheint sie zu befremden, schnell entsteht zwischen ihnen eine unangenehme Stimmung, das Gespräch bricht ab. Sie starren lieber in ihr Smartphone und wischen über die Oberfläche. Oder holen es nach maximal 10 Sekunden wieder aus der Gesäßtasche und wischen erneut. Länger halten sie es nicht aus? Hören etwas über die Kopfhörer. Was hören sie die ganze Zeit? Pod-Casts oder dieses Spotifi? Ich, weiß, dass man diese Kopfhörer auf „Durchzug“ schalten kann. Dann könne man normale Mensch-zu-Mensch-vor-Ort-Gespräche führen, heißt es.

Ich würde mich unwohl dabei fühlen, mich mit einem Menschen unterhalten zu müssen, der diese In-Ear-Kopfhörer in beiden Ohren oder monströs große Kopfhörer auf dem Kopf trägt. Aus dem Supermarkt kenne ich das schon: Wenn die Kassiererin oder der Kassierer anfängt etwas zu brabbeln, dann hat das selten etwas mit meinem Einkauf zu tun, sondern sie redet mit einem ihrer Kollegen. „Ich mache jetzt Pause“ ist der offenbar dort meistgesprochene Satz. Schön. Meine Supermarktkonversation beschränke ich deswegen auf Begrüßung, die Angabe meines bevorzugten Zahlungsmittels und eine Abschiedsformel.

Wobei mir die ganzen Supermarkt-Menschen noch am natürlichsten vorkommen. Sie kaufen im Supermarkt auch keinen Strom oder Gigabit (an der Kasse gibt es allerdings so kleine Kärtchen mit Strom oder Gigabit, aber ich habe dort noch nie jemanden ein Kärtchen nehmen sehen), sondern sie kaufen biologische Energieträger, könnte man sagen. Aber auch diese Erfahrung wurde mir genommen, als ich neulich in einem eher kleinen Supermarkt in einem Einkaufszentrum zufällig eine junge Frau beobachtete, die mit monströs großen Kopfhörer auf dem Kopf und dem Smartphone in Dauer-Vorhalte sprach, mutmaßlich mit jemand anderem, mit etwas anderem, irgendwoanders. Sie lief in den Supermarkt hinein, wanderte durch ein paar Gänge und ging wieder hinaus, ohne etwas aus den Regalen genommen zu haben und sprach dabei.

Ist ja nicht verboten, ich frage mich aber: Was soll das? Jemand meinte einmal zu mir, die jungen Leute strebten mit ihrer permanenten Ich-bin-nur-physisch-anwesend-Attitüde nach Transzendenz, also danach, ihre körperliche Hülle zu verlassen und zu einem höheren, oder zumindest anderen Bewusstsein zu gelangen. Ich halte diese Theorie für zu verwegen.

Übrigens haben jungen Frauen eher diese monströs großen Kopfhörer und die jungen Männer meist diese weißen In-Ear-Kopfhörer, die ein wenig wie Tampons aussehen. Wollen die jungen Frauen mit den weithin sichtbaren Kopfhörern signalisieren, dass sie nicht angesprochen werden wollen? Das kann ich verstehen. Die jungen Männer mit den Tampons in den Ohren – sexy ist das nicht.

Nun, ich möchte die Welt unmittelbar wahrnehmen, und zwar die Welt, die sich direkt um mich herum abspielt. Aber eigentlich nehmen auch die jungen Menschen die Welt um sich herum wahr. Nur eben anders. Es ist eine andere Welt um sie herum, die Welt durch die Augen von Whatsapp, Tiktok, Temu und durch eine sprechende KI, die einfach über alles Bescheid weiß. Die Welt unmittelbar um sie herum wird nur noch darauf hin gescannt, dass sie nirgends dagegen laufen. Mehr scheint sie nicht zu interessieren.

Das erinnert doch stark daran, wie Roboter zu „denken“ pflegen, oder? So gesehen, gibt es die künstlichen Menschen bereits, sie sind alltäglich und unter uns. Ganz ohne Rabbi (Golem),  Frankenstein (sein Monster) oder Faust (Homunkulus). Die Welt verändert sich.