Mannheim: Internationales Filmfestival Mannheim-Heidelberg zeigt Retropsektive

RETROSPEKTIVE: Umbrüche und Wendepunkte – Wiederentdeckungen aus 70 Jahren IFFMH

Mannheim – Das Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg (IFFMH) ist seit 70 Jahren Entdecker von Talenten, blickt durch ihre Augen und Kameras auf gesellschaftliche Entwicklungen und Verschiebungen, begreift Filme als Seismografen ihrer jeweiligen Epochen. Zur 70. Edition sind Kurator Hannes Brühwiler und Festivalleiter Dr. Sascha Keilholz in die Geschichte des Festivals eingetaucht und haben die Retrospektive UMBRÜCHE UND WENDEPUNKTE aus mehreren tausend Filmen zusammengestellt.

In 14 Veranstaltungen erzählen die Filmemacher von Wendepunkten – mal gesellschaftspolitischer, mal künstlerischer Natur. Dabei brechen sie alle auf unterschiedliche Weise mit den kinematografischen Konventionen ihrer Vorgänger. Die Retro spürt ihren vor Aufbruchs- und Ausdruckswillen sprudelnden Stimmen nach. Das Programm besteht aus 11 Langfilmen, vier mittellangen Filmen und fünf Kurzfilmen.

„Unser Fokus war nicht der eines repräsentativen Querschnitts, sondern vielmehr stand auch hier der Gestus des Entdeckens und Wiederentdeckens im Zentrum: ein aktueller Blick auf die Bandbreite des auf dem IFFMH versammelten internationalen Kinos. Die Retrospektive ist in diesem Sinne eine Expedition an Kristallisationspunkten der Festival- und Filmgeschichte“, so Hannes Brühwiler.

Autorenkino und Bürgerrechtsbewegungen

Das internationale Autorenkino der sogenannten Neuen Wellen ist dabei eine der Leitlinien, die sich durch die Jahrzehnte ziehen. Widmete sich die letztjährige Retrospektive dem französischen Kino nach den Maiunruhen 1968, stehen nun erneut in mehreren Werken die prägenden Ereignisse der späten 1960er-Jahre im Mittelpunkt: Bürgerrechtsbewegungen, Studentenunruhen, Prager Frühling.

Independentkino und Oberhausener Manifest

Haskell Wexler lässt seinen mit dem Großen Preis der Stadt Mannheim ausgezeichneten ›Medium Cool‹ (1969) in den Ausschreitungen der Democratic National Convention gipfeln und zeigt die USA in Aufruhr. Gleichzeitig suchen in Deutschland Edgar Reitz, Adolf Winkelmann, Günter Peter Straschek oder Danièle Huillet und Jean-Marie Straub ihrerseits neue ästhetische Wege, die gesellschaftspolitischen Umbrüche der BRD zu thematisieren. Das Oberhausener Manifest läutet den Neuen Deutschen Film ein. Es sind Jahre, die geprägt sind von einer überschwänglichen Lust am Experiment. Gesucht werden nicht mehr nur Stars vor der Kamera, die Filmemacher realisieren, dass die Kamera selbst zum eigentlichen Star geworden ist.

Von dort sind es noch zwei Jahrzehnte bis zum Ende des Kalten Krieges und dem Ende der Retrospektive. Die politischen Umwälzungen in den Ostblockstaaten sind in vollem Gange, als Volker Koepp im brandenburgischen Zehdenick einen Dokumentarfilm über den Niedergang der dortigen Ziegelfabrik dreht. ›Märkische Ziegel‹ (1989) ist geprägt von einer allgegenwärtigen Desillusionierung. Mit diesem märkischen Blick auf die Wende erweist sich Koepp als großer Chronist einer Zäsur.

Filmemacher an historischen Bruchstellen

Satyajit Rays ›Pather Panchali‹ (1955) wurde weltweit gefeiert, auch in Mannheim. Die stark vom italienischen Neorealismus geprägte lyrische Erzählweise wirkte dabei nicht nur für das indische Kino stilbildend. Abbas Kiarostamis ›The Experience – Tadjrebeh‹ (1973) über einen Jungen aus ärmlichen Verhältnissen, der sich in ein Mädchen aus einem noblen Viertel verliebt, erinnert schließlich an Rays Erzählhaltung und politisches Bewusstsein. Beides findet auch in Manuela Serras ›O Movimento das Coisas – The Movement of Things‹ (1985) einen entfernten Widerhall. Der Dokumentarfilm betont die Rolle von Filmemacherinnen an historischen Bruchstellen. So gilt Ula Stöckls ›Neun Leben hat die Katze‹ (1967) genauso wie Gertrud Pinkus‘ ›Das höchste Gut einer Frau ist ihr Schweigen – Il valore della donna è il suo silenzio‹ (1980) als Klassiker des feministischen Kinos. Mit Věra Chytilovás ›Something Different – O něčem jiném‹ ist zudem ein Film von einer der wichtigsten Regisseurinnen des europäischen Kinos im Programm vertreten. Ihr Werk: wütendes politisches Kino, das vehement am patriarchalen Status quo rüttelt und wie auch die anderen Filmemacher dieser Retrospektive mit den Mitteln des Kinos die Um- und Aufbrüche ihrer Zeit begleitet.


Die Filme in der Übersicht:

  • Satyajit Ray: ›Pather Panchali‹ (Indien, 1955) 1957 in Mannheim ausgezeichnet
  • Vera Chytilová: ›Von etwas anderem – O něčem jiném‹ (Tschechoslowakei, 1963) Ausgezeichnet 1963 mit dem Großen Preis der Stadt Mannheim
  • Jan Nemec: ›Diamonds of the Night – Démanty noci‹ (Tschechoslowakei, 1964) Ausgezeichnet 1964 mit dem Großen Preis der Stadt Mannheim
  • Edgar Reitz: ›Mahlzeiten‹ (Deutschland, 1966/67)
  • Ula Stöckl: ›Neun Leben hat die Katze‹ (Deutschland, 1968)
  • Albert Maysles, David Maysles, Charlotte Zwerin: ›Salesman‹ (USA 1969)
  • Haskell Wexler: ›Medium Cool‹ (USA, 1969)
  • Gérard Blain: ›Un enfant dans la foule – A Child in the Crowd‹ (Frankreich, 1976)
  • Ingemo Engström, Gerhard Theuring: ›Fluchtweg nach Marseille‹ (Deutschland, 1977), Ausgezeichnet 1977 mit dem Josef-von-Sternberg-Preis.
  • Gertrud Pinkus: ›Das höchste Gut einer Frau ist ihr Schweigen – Il valore della donna è il suo silenzio‹ (Schweiz, Deutschland, 1980) Ausgezeichnet 1980 mit dem Sonderpreis des Oberbürgermeisters der Stadt Mannheim
  • Manuela Serra: ›O Movimento das Coisas – The Movement of Things‹ (Portugal, 1985), 1985 in Mannheim mit einem Filmdukaten ausgezeichnet

Mittellange Filme 1

  • Chris Marker: ›Am Rande des Rollfelds – La Jetée‹ (Frankreich, 1962) 1963 mit einem Filmdukaten ausgezeichnet.
  • Abbas Kiarostami: ›The Experience – Tadjrebeh‹ (Iran, 1973)

Mittellange Filme 2

  • Roland Klick: ›Jimmy Orpheus‹ (Deutschland, 1966)
  • Volker Koepp ›Märkische Ziegel‹ (Deutschland, 1989) 1989 in Mannheim ausgezeichnet mit einem Filmdukaten
  • Fünf deutsche Kurzfilme aus den Jahren 1967 bis 1970
  • Adolf Winkelmann: ›Adolf Winkelmann, Kassel 9.12.1967, 11.54h‹ (1968)
  • Jean-Marie Straub und Danièle Huillet: ›Der Bräutigam, die Komödiantin und der Zuhälter‹ (1969)
  • Wim Wenders: ›Same Player Shoots Again‹ (1968)
  • Günter Peter Straschek: ›Zum Begriff des kritischen Kommunismus bei Antonio Labriola‹ (1970)
  • Birgit und Wilhelm Hein: ›Rohfilm‹ (1968)

Das 70. IFFMH findet vom 11. – 21. November 2021 statt. Das gesamte Festivalprogramm wird Ende Oktober veröffentlicht.


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