Aus Blamage wird ausgezeichnetes Projekt

10.000. Kulturpass

Götz Wörner - Aus einem Lebensabstieg wurde ein vielbeachtetes Sozialprojekt. Der Initiator zusätzlich mit Preisen ausgezeichnet

Frankfurt am Main (pia) – Götz Wörner und sein Verein „Kultur für alle“ geben den 10.000. Kulturpass aus. Götz Wörner hat mit seinem 2008 gegründeten Verein „Kultur für alle“ sozialpolitische Geschichte geschrieben. Mit seinem Kulturpass ermöglicht er inzwischen 10.000 Bedürftigen einen bezahlbaren Zugang zu den Theatern, Museen und Bühnen dieser Stadt.

Wörners Projekt ist inzwischen vielfach ausgezeichnet worden. Aktuell macht sich der findige Sozialunternehmer schon wieder auf zu neuen Ufern.

Firma Konkurs – Der Abstieg

Anfang 2008 ist Götz Wörner am Ende. Seine Firma ist bankrott. Zehn Jahre schon lebt der gescheiterte Schallplattenproduzent von Hartz IV. Seine Tage verbringt er im Frankfurter Bethmannpark, beobachtet Raben mit dem Fernglas. Das Telefon funktioniert schon länger nicht mehr. Irgendwann stellt der Versorger in der Wohnung auch noch den Strom ab. „Der Arsch ging mir damals richtig auf Grundeis“, erinnert er sich. Doch noch ist Wörner stolz. Er will seiner damaligen Freundin etwas bieten: einen Opernbesuch. „Ich kannte den Künstler, der auftreten sollte, noch von früher.“

Früher, also zu einer Zeit, als Götz Wörner noch durch die Welt jettete und Musiker in Havanna, in Rio, in Tokio, Paris und New York traf. Wer den Künstler kennt, wird doch wohl so reinkommen, dachte er sich. Doch die Freunde von einst wollten nach zehn Jahren nichts mehr von ihm wissen. „Ich war nur noch der lonesome Cowboy.“ Die Blamage vor der Freundin setzt ihm zu. 32 Euro Eintritt – woher nehmen? Er fühlt sich abgehängt, ausgeschlossen. „Ich dachte mir: '32 Euro – wie kann das sein?'“ Und im nächsten Schritt: „Verhungern kannst du nicht in Deutschland, dafür aber verdursten im Hirn.“

Mit nichts angefangen

Es ist die Geburtsstunde seiner neuer Lebensaufgabe: des Vereins „Kultur für alle“. Menschen, die nichts haben, sollen einen bezahlbaren Zugang zu Kultur erhalten. Wörner stellt sich bei Stiftungen vor. Beim Bürgerinstitut darf er für ein paar Monate den Schreibtisch benutzen. Später holt er sich Anschubhilfe beim Frankfurter Arbeitslosenzentrum (FALZ e.V.). „Ich hatte nichts. Kein Briefpapier, keinen Kopierer.“ Schritt für Schritt und ohne Geld bringt er die Sache ins Rollen.

Einen Kulturpass will er anbieten für alle, die von Grundsicherung leben. Einen Euro soll er kosten, 50 Cent für Kinder. Mit dem Pass kostet der Museumsbesuch oder das Konzert dann ebenfalls nur noch einen Euro beziehungsweise 50 Cent. Auf keinen Fall soll er kostenlos sein, das ist ihm wichtig. „Kultur kostet ja auch etwas.“ Doch dafür braucht er Einrichtungen, die mitmachen.

Der Kontakt zu den städtischen Stellen verläuft zunächst schleppend. Als Wörner aber auf einen Schlag 100 Karten für die Buchmesse, 30 für ein Konzert von Udo Lindenberg und 30 weitere für die Berliner Philharmonikern zu verteilen hat, geht er an die Presse. „Binnen einer Woche rannten mir 500 Leute die Bude ein.“ Nur acht Wochen später zieht Wörner mit Max Hollein, dem Direktor von Städel, Schirn und Liebieghaus, einen ganz dicken Fisch an Land. Ein Jahr später folgen auf Beschluss des Stadtparlaments die städtischen Museen. Auch die Alte Oper, mit der alles anfing, ist heute dabei, der Hessische Rundfunk mit seinem Sinfonieorchester und viele mehr.

Viele Nachahmer gefunden

Dieses Konzept, kulturelle Teilhabe für Bedürftige gemäß dem Ein-Euro-Prinzip zu ermöglichen, ist anfangs in Deutschland einzigartig und wegweisend. Und es hat in den vergangenen Jahren seine Wirkung entfaltet: 10.000 Kulturpässe hat Götz Wörner inzwischen ausgestellt. Sein Vertriebssystem, anfangs noch lückenhaft, ist inzwischen fast geschlossen. An über 50 Stellen im Stadtgebiet, vor allem Zentren der Sozial- und Wohlfahrtsverbände oder Kirchen, liegen seine Anträge aus. Hinzu kommen rund 20 Vereine, die ebenfalls mit Bedürftigen arbeiten und sie beim Ausfüllen der Anträge unterstützen.

Andere Städte und Initiativen imitieren sein Modell. Ihm ist das recht. Als Schöpfer der Idee wird er bis zum heutigen Tag immer wieder ausgezeichnet. In den Büroräumen des Vereins in der Eschersheimer Landstraße hängt die Urkunde als „Ort der Ideen 2010“, unterschrieben vom früheren Bundespräsidenten Horst Köhler; daneben Fotos von Götz Wörner, wie er mit Bundeskanzlerin Angela Merkel oder dem früheren Frankfurter Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann posiert. Da prangen auch die Walter-Möller-Plakette, höchste Auszeichnung der Stadt Frankfurt für ehrenamtliches Engagement und der Bürgerpreis der Frankfurter Sparkasse, der ihm von Oberbürgermeister Peter Feldmann am 23. Juli 2015 überreicht wurde – die vorerst jüngste Auszeichnung.

Neue Zielgruppe vor Augen

Wörner und Feldmann verstehen sich gut. Als der Sozialunternehmer vergangenes Jahr einen neuen Kulturpass für Jugendliche an den Start brachte, stellte der Frankfurter Oberbürgermeister das Projekt mit ihm gemeinsam vor und übernahm die Schirmherrschaft. Wörner macht sich dabei eine Statistik zu eigen, die auch Feldmann immer wieder ins Feld führt: „Wenn jedes vierte Kind dieser Stadt in Armut lebt, dann muss auch jedes davon einen Kulturpass bekommen“, fordert er.

Und wieder ist Wörner als Netzwerker gefordert. Wieder braucht Wörner Partner, die seine Idee in Umlauf, die Anträge unters Volk bringen. Schulen, Kitas, Sportvereine, Träger der Kinder- und Jugendhilfe und viele andere kommen dafür in Frage. „Um die Kinder zu erreichen, wird es mit einer Internetseite nicht getan sein.“

Unbedingte Korrektheit versprochen

Ob Jugendlicher oder Erwachsener – wer den Kulturpass haben will, muss einen Nachweis bringen, dass er oder sie staatliche Transferleistungen bezieht. Damit wird die Bedürftigkeit sozusagen hoheitlich abgesichert. „Manchmal gibt es natürlich Grenzfälle“, so Wörner. Aber da gibt es kein Pardon. Er hat den Kultureinrichtungen unbedingte Korrektheit versprechen müssen. Möglich ist auch einfach die Vorlage des Frankfurt-Passes. Dieses vom Sozialamt ausgestellte Dokument ermöglicht sozial Schwachen ebenfalls einen rabattierten Besuch kultureller Einrichtungen: Zoo, Palmengarten und Schwimmbäder kosten damit einen Euro; für Museen werden 50 Prozent Rabatt gegeben.

Wörner sieht darin keine Konkurrenz, eher eine Ergänzung. Zwar unterbietet er in Teilen das kommunale Angebot. „Der halbe Eintritt für eine Boticelli-Ausstellung beträgt mit dem Frankfurt-Pass acht Euro. Bei mir kostet er einen.“ Andererseits hat er die Schwimmbäder und den Zoo nicht in seinem Portfolio. Und auch die Kombination mit einer von der Stadt geförderten RMV-Fahrkarte, der Clevercard, kann Wörner bislang nicht bieten.

Mit Unterstützung weit gekommen

Die vielen Ehrungen haben dem Verein inzwischen schon einige Tausend Euro in die Kasse gespült. Hinzu kommen Zustiftungen externer Partner: Polytechnische Gesellschaft, Aktion Mensch, Selbst.Los-Kulturstiftung, Adolf-und-Luisa-Haeuser-Stiftung geben Geld dazu. IHK-Präsident Mathias Müller ließ kürzlich bei seiner Geburtstagsfeier die Gäste für den Verein sammeln, erzählt Wörner. Zehntausend Euro seien so zusammengekommen. Aber der Verein sei mitnichten üppig ausgestattet. „Wir fahren immer auf Sicht. Was reinkommt, wird sofort reinvestiert. Dreißig Prozent meiner Arbeit besteht darin, Geld aufzutreiben.“ In Miete, Telefon, Webseite, Informationsmaterial, nicht in Personal. Wörner verdient nach eigener Aussage selbst nichts daran. Er lebe bis heute von Hartz IV. Auch sonst arbeite der Verein aktuell nur mit Ehrenamtlichen: einem Grafiker, der Informationsmaterial gestaltet, einer Frau, die einmal pro Woche vorbeikommt, um Anträge ins EDV-System einzutragen sowie einer weiteren, die die Webseite pflegt und zum Beispiel die Termine und Rabatt-Kontingente der Kulturveranstalter überträgt.

Noch mehr anbieten

Ziel des Sozialunternehmers bleibt auch nach Erreichen der Zehntausender-Marke, so viele Pässe wie möglich auszugeben. „80.000 Frankfurter beziehen in irgendeiner Form Transferleistungen des Staates. Wenn nicht noch mehr.“ Wörner möchte gerade bei den Kindern weiter kommen und hat die in großer Zahl in Frankfurt landenden, unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge im Blick. Sie alle will er mit seinem Kulturpass ausstatten. Auch die Werbung neuer Kultureinrichtungen geht natürlich weiter. „Den Zoo hätte ich gerne dabei. Die privaten Kinos, die Clubs. Und die großen Sportvereine, die Eintracht, den FSV, die Löwen, die Skyliners, die Galaxy. Sport ist doch auch Kultur, Bewegungskultur.“

Wörner lacht, wird dann aber schnell ernst. „Armut macht die Menschen einsam. Dabei müssen sie unter die Leut'“. Erste Bundesliga für einen Euro, damit hätte er es dann wohl endgültig geschafft. Da allerdings beißt der hartnäckige Wörner bisher auf Granit. Noch. Wann er selbst zuletzt eine Kulturveranstaltung besucht hat? Da muss er lange überlegen. Das Abschiedsfest der Fliegenden Volksbühne vom Cantate-Saal, da sei er gewesen. Aber sonst? „Keine Zeit.“