Weltklasse im Sport – und im Beruf?

Frankfurt am Main – Kann es sein, dass Sportler Urlaubssemester einlegen müssen, um die Qualifikation für Olympia zu schaffen? Besteht die Gefahr, dass Spitzenathleten nur deshalb zur Polizei gehen, weil sie dort Sport und Karriere am besten vereinen können? Lässt sich das amerikanische System, in dem Sportler ihr Studium am Trainingsplan ausrichten und nicht andersrum, auf Deutschland übertragen? Wollen wir das? Und muss Duale Karriere überhaupt bedeuten, dass Sport und Berufsausbildung parallel erfolgen? Über diese und viele weitere Fragen diskutierten am Mittwochabend die Teilnehmer des 4. Sportdialogs „Volltreffer“ des Landessportbundes Hessen (lsb h). Die Diskussionsrunde in den Räumen des Hessischen Rundfunks (hr) hatte der Verband unter den provokanten Titel: „Leistungssport und Bildung: Segen für die Athleten, Fluch für den Sport?“ gestellt, wie Dr. Susanne Lapp, Vizepräsidentin Kommunikation und Marketing des lsb h, bei ihrer Begrüßung erläuterte.

„Der Sport darf keine Einbahnstraße sein“, befand gleich zu Beginn der für Leistungssport zuständige Vizepräsident Lutz Arndt: „Schon unseren jungen Talenten und ihren Eltern müssen wir glaubhaft aufzeigen, dass es möglich ist, neben dem Sport eine gute Ausbildung zu absolvieren.“ Arndt vertrat damit die klassische Definition der Dualen Karriere im Sport: Schon während seiner aktiven Zeit arbeitet ein Athlet an seiner beruflichen Ausbildung, macht Abitur, absolviert ein Studium oder eine Ausbildung – bestenfalls zu angepassten Bedingungen.

Dirk Schimmelpfennig, Vorstand Leistungssport des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), ist diese Auffassung zu starr: „Wenn wir in der Weltspitze mitmischen wollen, muss sich die berufliche Ausbildung unserer Athleten mehr an den Bedingungen des Leistungssports orientieren.“ Soll heißen: Für jede Sportart, für jeden Sportler müssen individuelle Lösungen gefunden werden. Schimmelpfennig bemühte dafür Beispiele aus seiner eigenen Sportart, dem Tischtennis: „Viele unserer Top-Athleten haben nur Mittlere Reife gemacht und sich danach voll und ganz auf den Sport konzentriert, um mit den Asiaten mithalten zu können. Sie sind erst nach der Sportkarriere ihren beruflichen Weg gegangen – durchaus erfolgreich.“

Doch ist das ein Modell für alle Sportler? „Ich komme aus einer ganz normalen Familie. Wenn ich mich nach dem Abitur erst einmal nur auf den Sport konzentriert hätte – wer hätte das bezahlen sollen?“, fragte Siebenkämpferin Carolin Schäfer. Als Fünfte der Olympischen Spiele in Rio gehört sie in ihrer Disziplin zur Weltspitze – doch leben kann sie davon nicht. Dafür habe sie es mit ihrem Arbeitgeber „perfekt getroffen“. Dieser Arbeitgeber heißt Polizei. „Ich habe es perfekt getroffen, weil Kommissarin auch ohne Sport mein Wunschjob gewesen wäre“, sagt die 24-Jährige. Doch obwohl das Studium für die Mitglieder der Sportfördergruppe auf viereinhalb Jahre gestreckt ist, sei die Doppelbelastung in dieser Zeit extrem gewesen. „Ich bin von A nach B gerannt. Denn ich will nicht nur im Sport Weltklasse sein, sondern auch im Beruf“, nennt Schäfer klare Vorstellungen.

Jetzt, nach ihrem Studium, kann sich die Siebenkämpferin erst einmal voll auf den Sport konzentrieren, Medaillen in Angriff nehmen. „Das Wissen, danach einen sicheren Arbeitsplatz bei der Polizei zu haben, ist unglaublich viel wert. Das ist wichtig für den Kopf und macht mich im Sport stark“, ist sie überzeugt. Jan-Philip Glania kann von solchen Sicherheiten nur träumen. Der Rückenschwimmer kennt zwar die Vorteile der Polizeifördergruppe. „Aber es muss auch zu einem passen. Und ich wollte einfach Zahnmedizin studieren.“ Er habe vorher gewusst, worauf er sich einlasse.

Doch auch, wenn sein Professor und Mentor Dr. Hans-Christoph Lauer betont, Glania sei wie viele Sportler „strukturiert, diszipliniert und auf den Punkt vorbereitet“, so wird doch deutlich, wie schwer der Spagat zwischen Studium und Spitzensport dem Schwimmer fällt. „Ohne das Urlaubssemester, das ich genommen habe, hätte ich wohl nicht mal die Quali für Olympia geschafft“, gibt er offen zu. Dass die Ergebnisse in Rio nicht den Erwartungen entsprachen, will er nicht auf sein Studium zurückführen. „Aber es ist hart, wenn du in den Vorlesungspausen trainieren musst, wenn du Prüfungen nicht verschieben kannst, wenn du immer das Gefühl hast, gerade eines vernachlässigen zu müssen.“

Das deutsche Spitzensportsystem bezeichnete er als „rückständig, quasi Steinzeit“. Kooperationsverträge, wie der Olympiastützpunkt Hessen sie mit zahlreichen Hochschulen ausgehandelt habe, seien zwar gut, gingen aber nicht weit genug. „Wir müssen am Fundament was ändern. In den USA gibt es Unis, an denen sich die Vorlesungen an Trainings- und Wettkampfzeiten ausrichten und nicht umgekehrt. So etwas würde ich mir für Deutschland auch wünschen.“ Landessportbund-Präsident Dr. Rolf Müller, in vielen Dingen bei Glania, teilte diesen Wunsch nicht: „Sicher gibt es bei uns viel Verbesserungsbedarf. Doch das angelsächsische Sportsystem, bei dem Sport fast ausschließlich an Schulen und Universitäten stattfindet, möchte ich nicht: Wir haben nicht nur Leistungs-, sondern auch Breitensport. Dafür brauchen wir unsere Vereine.“

Dirk Schimmelpfennig (DOSB) hält das amerikanische Modell hingegen zumindest in Ansätzen für übertragbar: „In der Leistungssportreform ist vorgesehen, die Zahl der Olympiastützpunkte zu reduzieren und dafür einige Top-Stützpunkte aufzubauen“, kündigte er an. Dort solle unter optimalen Bedingungen die Athleten in den Fokus gestellt werden – samt ihrer sportlichen wie beruflichen Ziele.

Doch ist das die einzig wahre Lösung? Kann man durch eine Veränderung der Rahmenbedingungen wirklich dafür sorgen, dass die Zahl der deutschen Olympia-Medaillen erhöht wird, wie sich das nicht nur Bundesinnenminister Thomas de Maizière wünscht? Nicht in jedem Fall, wie das Beispiel von Christiane Klopsch zeigt. Die zweimalige Deutsche Meisterin im 400-Meter-Hürdenlauf hat 2015 mit nur 25 Jahren ihre Karriere beendet. Das Germanistik-Studium hatte sie zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen. „Es war ganz gut mit meinem Sport zu kombinieren“, sagt sie heute. Dank ihrer Mentorin hätte sie selten Anwesenheitspflicht gehabt, Vorlesungen konnte sie sich relativ flexibel terminieren.

Doch dann bewarb sie sich für ein Volontariat beim Hessischen Rundfunk – und wurde genommen. Kein Wunder: „Die berufliche Kompetenz ist für uns zwar die erste Priorität. Aber aus Erfahrung wissen wir beim hr, dass sportliche Spitzenleistungen ein Indiz dafür sind, dass sich Personen auch unter schwierigen Bedingungen durchsetzen, unter Stress gute Leistungen erbringen können“, machte Intendant Manfred Krupp deutlich.

Dass das auch für Christiane Klopsch zutrifft, merkt man auf Anhieb. Trotzdem gesteht sie: „Sport und einen Vollzeitjob – das habe ich nicht geschafft, das war zu viel.“ Weil sie in ihrem Leben „den nächsten Schritt“ machen wollte, entschied sie sich ganz bewusst für den Job – und gegen den Sport. Nun will sie als Journalistin versuchen, die Aufmerksamkeit auf die zu lenken, „die eine große Leidenschaft für den Sport haben und dafür viel auf sich nehmen“.
Das, waren sich alle Teilnehmer der Diskussionsrunde einig, sind nicht nur die, die Medaillen gewinnen. „Auch wer Fünfter oder Elfter wird, leistet Tolles. Das geht manchmal leider unter“, fand Siebenkämpferin Carolin Schäfer. „Ich wünsche mir mehr Wertschätzung für unsere Athleten“, sagte auch Dr. Rolf Müller und warnte davor, Medaillen um jeden Preis zu fordern. Bernd Brückmann, Laufbahnberater am Olympiastützpunkt Hessen, bezog diese Forderung auf die Duale Karriere: „Die Priorität jedes Athleten liegt auf dem Sport. Aber wir können nicht verlangen, dass er sich nur darauf konzentriert. Wir dürfen ihn nicht um Medaillen willen von der Karriere nach dem Sport abschneiden.“