Das Gedächtnis der Stadt – das Stadtarchiv Mannheim

Zum Tag des Offenen Denkmals am 8.9.2013

ein Blick ins Stadtarchiv Mannheim

Seit über hundert Jahren, länger als Dornröschen im Schlaf lag, gibt es in Mannheim ein Archiv, das genau das verhindert: alles zu vergessen wie in einem langen Schlaf.

Ein Erinnerungsort, der die Historie der Stadt mit ihrem schriftlichen, bildlichen und auch filmischen Erbe aus der Vergangenheit bewahrt und damit auch eine Brücke zur Gegenwart schlägt, durch die die Kenntnis der Geschichte das Heute oft erst verständlich wird.

Doch weil die Zukunft der Einrichtung im baufälligen Collini-Center nicht gesichert ist, sahen wir einen Grund für einen Besuch im Hippocampus der Quadratestadt, fachkundig begleitet vom Leiter des Hauses, Dr. Nieß.

„Der Bau selber hat, wie seit Monaten auch durch die Presse bekannt, irreparable Schäden. Auch ist unser Magazin inzwischen ausgeschöpft und unsere Standardanforderungen sind höher als in gewöhnlichen Büros. Die historische Bildungsarbeit steht im Vordergrund unserer Arbeit, dafür reichen die Räumlichkeiten leider nicht aus“, erläutert der Direktor gleich zu Beginn des Gesprächs die Problematik des Standorts. Doch die ist beinahe so alt wie das Archiv selbst.

Es war kein Aprilscherz, als zum Ersten jenes Monats im Jahre 1907 Friedrich Walter, Herausgeber der Mannheimer Geschichtsblätter und Autor der ersten wissenschaftlich fundierten Stadtgeschichte, zum hauptamtlichen Leiter des städtischen Archivs ernannt wurde.
Doch ist dies nicht die Geburtsstunde des Archivs, denn es wurde bereits 1772 erstmalig als selbstständige und etablierte Dienststelle erwähnt.

Zwei Jahre nach der Ernennung Walters gab es dann erste Statuten, die der Stadtrat festlegte:

„Das Archiv solle für die Bedürfnisse der städtischen Verwaltung, […] aber auch wissenschaftlichen Zwecken dienen und im Allgemeinen die Pflege und Erforschung der heimatlichen Geschichte befördern.“ Zu dieser Zeit war es im barocken Kaufhaus in N 1 untergebracht, das 1904 bis 1910 zum Rathaus umgebaut wurde. Und schon damals, in den 1920er Jahren, litt das Archiv bereits sowohl unter räumlicher Enge als auch unter Personalmangel.
Trotz schwerer Verluste im Zweiten Weltkrieg konnten die bedeutendsten Archivalien gerettet werden, vor allem die Ratsprotokolle ab 1661 und alle seit Einführung der Meldepflicht 1807 entstandenen Meldebögen und Meldekarteien. Wieder beeinträchtigt durch die massiven Raumnot konnte dennoch ein systematischer Ausbau des Archivs beginnen. Dabei konnten für Mannheim sehr relevante Nachlässe von überregionalem Wert erworben werden, u. a. die des Wagner-Freunds Emil Heckel, des Kunsthallendirektors Fritz Wichert oder der Oberbürgermeister Otto Beck und Hermann Heimerich. Gleichzeitig wurden eine umfassende zeitgeschichtliche Sammlung mit über 500.000 Zeitungsausschnitten und sachthematische Dokumentationen angelegt, z.B. zu Widerstand und Verfolgung unter dem Nationalsozialismus, zur Arbeiterbewegung und zur jüdischen Geschichte. Letztere wird eines der nächsten Ziele des Stadtarchivs sein, so Dr. Nieß. „Wir erarbeiten zusammen mit der jüdischen Gemeinde eine modulare Strategie, wie wir vorgehen.“

Mit der KZ-Gedenkstätte Sandhofen und der Gestaltung des 27. Januars (Gedenktag der Befreiung des KZ Auschwitz) betreibt das Institut schon seit einigen Jahren jene eine wichtige und notwendige Zusammenarbeit im Hinblick auf neue Formen der Erinnerungskultur über die dunklen Seiten deutscher und damit auch Mannheimer Geschichte, was sich auch an einem zeitgemäßen Konzept zur Gestaltung des 27. Januar (Gedenktag der Befreiung des KZ Auschwitz) ablesen lässt.

„Eine Dokumentation der jüdischen Gräber steht an, denn es gibt bisher noch nichts Zusammenhängendes in dieser Angelegenheit“, erläutert der Direktor weiter die Angelegenheit. Außerdem soll es eine Dauerausstellung über die Zeit des Nationalsozialismus und die ersten Jahre des Wiederaufbaus geben, die eine gewisse Erinnerungskultur der Bevölkerung fördern soll, besonders für die NS-Jahre, aber auch danach. Dies sieht man auch als Aufgabe für die jungen Leute, der Anfang dafür wurde bereits in den 1970ger Jahre gemacht. „Mannheim war keineswegs die tolerante Stadt in dieser Zeit, wie sie sich nach außen gerne darstellt. Auch hier war Antisemitismus stark vorhanden, wie das Buch von Christiane Fritsche „Ausgeplündert, zurückerstattet und entschädigt. Arisierung und Wiedergutmachung in Mannheim“ sehr ausführlich und professionell darlegt“, lobt Dr. Nieß seine Mitarbeiter. „Der Nationalsozialismus war nach 1945 nicht plötzlich abgeschlossen, es gab nicht auf einmal eine Demokratie, sondern das war ein langer Prozess bis tief in die 50er Jahre hinein“, weist er noch einmal auf die Archivpädagogik hin, eines seiner Steckenpferde. Er gewinnt die Jugendlichen auf der persönlichen Schiene, mit authentischen Quellen, lebendiger Geschichte, Interaktionen während der Tage der Offenen Tür oder bei Besuchen in Schulen. „Die Archivpädagogik ist eine unserer Säulen“, sagt er. Eine echte Ansage, um die Rosenhecke des allgemeinen Desinteresses an Geschichte zu zerschlagen und mit den jungen Leuten in das Schloss ihrer eigenen Vergangenheit, das für sie etliche Geheimnisse birgt, einzudringen.

Die bis heute noch gültige organisatorische Struktur mit den beiden Hauptabteilungen „Zwischenarchiv“ und „Historisches Archiv“ erhielt das Archiv in den 1960er Jahren und profilierte sich in allen Fragen moderner Schriftgutverwaltung als unentbehrlicher Dienstleister und als Gedächtnis der eigenen Verwaltung. Hier forciert das Archiv zusammen mit anderen Verwaltungsstellen die stadtweite Einführung der elektronischen Akte. Damit einher geht sein eigener Wandel vom papierenen zum digitalen Archiv mit breiten Möglichkeiten der Online-Recherche. Das Stadtarchiv-Institut für Stadtgeschichte versteht sich zugleich als eine Kulturinstitution, die stadthistorisches Bewusstsein wecken und Erinnerungskultur vermitteln will. Deshalb wurden seit 1971 in mehreren Veröffentlichungsreihen zahlreiche Publikationen zu stadt- und regionalgeschichtlichen Themen herausgegeben.

In den 1990er Jahren erfolgte die räumliche Konzentration des Archivs im Collini-Center. Hier bewahrt es u. a. mehr als 3.000 laufende Meter Bau- und 9.000 Meter sonstige Verwaltungsakten und Amtsbücher auf, sowie Pläne und Karten, über 13.500 Plakate, 800.000 Fotos, 20.000 Ansichtskarten und Filmdokumente ab 1907 auf, die für jedermann – im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen – einsehbar sind.

Mit dem Aufbau eines Service Bauakteneinsicht, eines eigenen Digitalisierungszentrums und der Begründung eines Betriebs gewerblicher Art (BgA) geht das Stadtarchiv auch neue, Ressourcen optimierende Wege im 21. Jahrhundert. Langfristiges Ziel ist es, das gesamte historische Erbe digital zu sichern und zur Verfügung zu stellen.
„Wir möchten gerne die Stadtgesellschaft mit beeinflussen, ein Haus der Stadtgeschichte sein, wobei wir auf Kooperationen großen Wert legen“, betonte der Archivdirektor noch einmal die wichtige Rolle eines gut organisierten Archivs für eine Stadt, aber auch eine Region. „Allein die über sechshundert Mitglieder unseres Fördervereins, aber auch die vielen Besucher und Besucherinnen zu Gelegenheiten wie dem Tag der Offenen Tür oder dem Tag des Offenen Denkmals, demnächst wieder am 8. September, beweisen, wie sehr wir in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Das Feedback auf unsere Arbeit ist sehr gut“, sagte er stolz.

Das ist sicher auch Ergebnis solch attraktiver Serviceangebote wie für faksimilierte historische Geburts-, Heirats- und Sterbeurkunden, wodurch das – manchem vielleicht zu akademisch vorkommende – Stadtarchiv langsam zum reellen Bürgerarchiv wird. Die Aktion „Stadtpunkte“ in der Mannheimer Innenstadt wird gut angenommen, und die Jugendlichen will man durch spezielle Apps zu noch mehr Interesse an ihnen gewinnen.

Auf Glastafeln an Häusern oder eigens dafür aufgestellten Sandsteinstelen werden in Wort und Bild interessante Aspekte der Mannheimer Geschichte dargestellt. Ein Projekt, das von Oberbürgermeister Dr. Kurz initiiert und vom Stadtarchiv sehr gelungen realisiert wurde.

Große Unterstützung erfährt das Stadtarchiv auch von zwei Fördervereinen: dem 1989 aus Kreisen der Architektenschaft und des Baugewerbes gegründeten Mannheimer Architektur- und Bauarchiv e.V. (MAB) und dem seit 1997 bestehenden Verein der Freunde des Stadtarchivs e.V. (VFS). Das MAB bemüht sich um die Ermittlung, Sicherung und Erschließung baugeschichtlicher Unterlagen und gab u. a. eine sechsbändige Dokumentation „Mannheim und seine Bauten 1907-2007“ heraus. Der VFS versucht alle an der Stadtgeschichte Interessierten zusammenzuführen  und fördert insbesondere Digitalisierungs- und Bestandserhaltungsmaßnahmen sowie Publikationen.

Seit dem 1. August 2004 führt das Stadtarchiv den Namenszusatz „Institut für Stadtgeschichte“ und signalisiert damit seine Kompetenz als Kultureinrichtung. Über 60 Publikationen erschienen seit 2001, darunter das erste multimediale Findmittel in Deutschland, die tausendfach verkaufte DVD-Reihe „Mannheimer Filmschätze“, CD-Produktionen und auch optisch hochwertig gestaltete Monographien. Zum Stadtjubiläum 2007 – zugleich 100. Jubiläum des Stadtarchivs – erschien eine neue und vielbeachtete dreibändige Geschichte der Stadt Mannheim, die das erworbene Know-how des Instituts für Stadtgeschichte unterstreicht.
Dazu noch einmal Dr. Nieß: „Die Sinnhaftigkeit unserer Arbeit soll dem Laien zugänglich gemacht werden, Diskussionen angestoßen, Geschichtsbewusstsein, das gerade in Mannheim sehr ausgeprägt ist, mit Inhalten gefüllt werden.“

Hochinteressant wieder das nächste Projekt, in dem der Erste Weltkrieg historisch neu aufgearbeitet werden soll, der, nach Meinung des Direktors und vollkommen zu Recht, im Bewusstsein der Allgemeinheit „zu Gunsten des Zweiten Weltkriegs zurückfällt“ in seinem Schrecken, seiner Grausamkeit und seiner Opferzahl. Eine Idee, die sich auch regional sehr gut umsetzen lässt.

Eine Stadt, besonders eine von der Größe und Bedeutung Mannheims, braucht ein kollektives Gedächtnis – mit diesem Stadtarchiv ist es damit auf einem guten Weg, niemals in einen hundertjährigen Schlaf zu verfallen.