Harderbücher
Die Ingelheimer Harderbücher (Foto: Stadtverwaltung Ingelhiem)

Ingelheim – Mit jemandem oder etwas hadern, heißt heute, sich über jemanden zu beklagen, sich mit jemandem zu streiten oder über etwas unzufrieden sein.

Im Mittelalter und der Frühen Neuzeit bedeutete es aber auch, einen Prozess zu führen, in dem der Streit, der Hader, zwischen den Parteien ausgetragen wurde. Und so tagte das Ingelheimer Reichsgericht mehrmals wöchentlich an einem der drei Standorte in Ober-Ingelheim, Nieder-Ingelheim und Großwinternheim und nahm sich des alltäglichen Haders an.

Über einen Zeitraum von exakt 147 Jahren (1387-1534) sind in den 19 vollständig erhaltenen und in Kopert gebundenen Bänden, die im Ingelheimer Stadtarchiv verwahrt werden, die angefallenen Prozesse dieses Laiengerichts dokumentiert und stellen damit für die heutige Forschung eine einzigartige Quelle dar, die eine Fülle interessanter Informationen zum Leben in früheren Epochen bietet. Die Protokollbücher gelten damit als die ältesten seriell erhaltenen gerichtlichen Textzeugnisse im deutschsprachigen Raum.

Fünf dieser Bände werden seit dem Jahr 2010 im Rahmen des Editionsprojektes „Ingelheimer Haderbücher“ der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, in dem nicht nur die für die wenigsten Menschen lesbare Schrift von Mitarbeitern des Instituts für Geschichtliche Landeskunde der Universität Mainz transkribiert, sondern auch die kaum verständliche Sprache in heute begreifliches Deutsch übersetzt wird. Die Reihe wurde und wird finanziell von der Stadt Ingelheim (Bände 1-5) und der Firma Boehringer Ingelheim (Band 1) getragen. Für die Bände 3 und 4 erfolgte darüber hinaus ein finanzieller Zuschuss durch die Stiftung Rheinland-Pfalz für Kultur. Band 4 – Ober-Ingelheim 1518-1529 – wurde als bislang letzter Band im Dezember 2015 der Öffentlichkeit präsentiert und nimmt zugleich eine Vorreiterrolle ein, denn im Rahmen dieser Präsentation wurde das Versprechen gegeben, die Errichtung einer Datenbank umzusetzen. Nach reiflicher Überlegung hatten sich alle Beteiligten dazu entschlossen, dass das Projekt moderner, zeitgemäßer – eben digitaler – werden sollte und so entschied der Stadtrat der Stadt Ingelheim im September 2015 die Verschlankung des Buches und die Errichtung einer Datenbank, wodurch der Grundstein dafür gelegt war, dass die alten Geschichtsbücher nun, knapp zwei Jahre später, im Mainstream angekommen sind.

Nochmal zur Vorreiterrolle, zum Zwischenschritt, zum Paradigmenwechsel: Nicht nur, dass Band 4 als erster der Reihe nicht mehr komplett gedruckt wurde, sondern nur ausgewählte Fälle beinhaltete, so ist er doch auch der erste, der nun online gestellt wurde.

In einer kleinen Vorstellung wurde die Datenbank am 25. Oktober 2017 im Institut für Geschichtliche Landeskunde (IGL) der Universität Mainz präsentiert. Zu den Ober-Ingelheimer Beleidigungsklagen, Ehebrüchen, Erbrechtsstreitigkeiten, tätlichen Angriffen, Betrugsdelikten, Nachbarschaftszwisten oder Wirtshausschlägereien der Jahre 1518-1529 kann ab sofort über den Internetauftritt www.haderbuecher.de bequem vom heimischen Sessel aus per Mausklick oder sogar während einer Zugfahrt mit Hilfe des Smartphones oder Tablets recherchiert werden – bequem auch deswegen, weil es somit keine sieben Kilogramm schweren Bände mehr zu handhaben gilt, denn natürlich werden nach und nach auch die bisher erschienen Bände der Editionsreihe sowie der noch herauszugebende Band 5 eingepflegt und können somit weltweit digital abgerufen werden.

Die Datenbank besticht durch ein modernes Design, erkennbare Strukturen, die Einhaltung wissenschaftlicher Standards, eine schnelle Recherche und die Möglichkeit, bis ins kleinste Detail zu zoomen. 250 MB große, hochauflösende, komprimierte Scans, 578 Einzelblatt-Datensätze und 3.341 Registereinträge im ausführlichen interaktiven Index bilden im Gesamtpaket das Herzstück der Datenbank. Mit ihrer Hilfe sieht man den originalen Text mitsamt seiner Transkription im wundervollsten Ober-Ingelheimer Platt des 16. Jahrhunderts und gleich daneben der Übersetzung ins heutige Deutsch. Man kann nicht nur nachschlagen, was „absteinen“, „Cineres“ oder auch „testimonia“ bedeutet, sondern tief in die Gerichtsfälle einsteigen. Nur Urteile wird man wenige finden, denn die Prämisse war es, sich außergerichtlich zu einigen, um den Ortsfrieden aufrecht zu erhalten.

Datenbankentwickler Thomas Maack von der Firma netbuero hat bei der Programmierung ganze Arbeit geleistet – denn, da keine passende Software für das Projekt am Markt war, musste selbige entwickelt werden. Ende 2016 war diese für den geplanten Internetauftritt fertiggestellt. Die IGL-Mitarbeiter Dr. Stefan Grathoff, Max Wegner und Carolin Schäfer haben Entwickler Maack in vielen Sitzungen erklärt, wie sie sich die Datenbank vorstellen und haben das Endergebnis dann mit Leben gefüllt. Dr. Werner Marzi steht nach wie vor als Herausgeber der Editionsreihe zur Verfügung, Institutsleiter Dr. Kai-Michael Sprenger war Tippgeber für die Kehrtwende im Gesamtprojekt. Dr. Regina Schäfer sorgte aufgrund der Übertragung der von Dr. Grathoff vorgenommenen Transkription ins heutige Deutsch überhaupt erst für die Lesbarkeit.