Erste jüdische Schule in Deutschland wiedereröffnet

Vor 50 Jahren

Pava Raibstein in einem Klassenraum

Frankfurt am Main – Die jüdische Gemeinde Frankfurt war die erste in Deutschland, die nach dem Krieg wieder eine jüdische Schule gründete. Am 18. April feiert die Einrichtung, die nach dem Rabbiner Isaak Emil Lichtigfeld benannt wurde, ihren 50. Geburtstag. Eine der ersten Schülerinnen erinnert sich.

Es war etwas Besonderes für die kleine Pava Horowitz, die heute Raibstein heißt, als Sechsjährige mit ihrer Zuckertüte den Seitenflügel der Synagoge im Westend zu betreten und zum ersten Mal die große Steintreppe zu ihrem Klassenraum hinaufzugehen. Mit ihr erlebten elf weitere Erstklässler im April 1966 ihre Einschulung an der jüdischen Schule, der ersten, die nach dem Krieg in Deutschland gegründet wurde. Einer der Mitinitiatoren war damals der Landesrabbiner Isaak Emil Lichtigfeld, dessen Name die Schule seit 1968 trägt.

Jüdische Identität vermitteln

Sein Verdienst war es, nach dem Krieg in Frankfurt die vielen heimatlosen Juden aus dem Osten, die aus dem Lager für Displaced Persons der amerikanischen Besatzer in Zeilsheim kamen und die wenigen Frankfurter Juden, die die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten überlebt hatten, zu einer Gemeinde zu formen. Mit gerade mal 4.000 Mitgliedern zählte sie zu den größten jüdischen Nachkriegsgemeinden in Deutschland. Die Kinder, die in dieser Zeit auf die Welt kamen, wurden in den 1950er Jahren schulpflichtig. Sie hätten sich aber in den staatlichen Schulen zum Teil wie Außerirdische gefühlt, berichtet Alexa Brum, die von 1992 bis 2014 Direktorin der Lichtigfeld-Schule war.

„Daheim wurde bei vielen Jiddisch gesprochen. Die Eltern waren schwer traumatisiert. Selbst, wenn diese nicht von der Schoah sprachen, waren sie doch zutiefst belastet und so ganz anders als die Eltern der Klassenkameraden. Und auch die Feiertage und Gebräuche, das Essen, alles war anders.“

Zudem habe es in dieser Zeit noch viele Lehrkräfte an den deutschen Schulen gegeben, die in die Gräuel der Nationalsozialisten verstrickt gewesen waren.

Mit der Gründung der jüdischen Schule sollte daher ein Ort geschaffen werden, „an dem der Banknachbar zuhause die gleichen Bedingungen hatte, wie man selbst“, sagt Brum, eine Schule, an der sich Kinder verunsicherter und traumatisierter Familien vertraut und sicher fühlen sollten. Ziel war es von Anfang an, neben den staatlichen Unterrichtsfächern auch jüdische Inhalte zu vermitteln. Die Schüler lernten Neuhebräisch, ihre Religions- und Kulturgeschichte und erhielten jüdischen Religionsunterricht.

Gründung trotz Einwände

Die Eröffnung fand am 18. April 1966 in aller Stille statt, die Zeitungen berichteten erst im Nachhinein bundesweit über die neue Schule. Sie sei ein Experiment und man wolle kein großes Aufsehen, sagte Lichtigfeld damals. Das Konzept habe es den Schülern ermöglicht, jüdisches Leben unbefangen als „normal“ zu erleben und so eine jüdische Identität zu erlangen, stellt Brum fest. „Dass man mit solchen Ideen in jener Zeit nicht öffentlich hausieren ging, versteht sich von selbst. Es gab erhebliche Einwände gegen die Gründung einer jüdischen Schule, sowohl bei den Gemeindemitgliedern, als auch im Land Hessen.“ So waren sich die Politiker damals nicht einig darüber, ob es überhaupt Konfessionsschulen geben sollte. In der jüdischen Gemeinde wurde dagegen unter anderem diskutiert, ob es nötig sei, wegen einiger Religionsstunden, die vom normalen Lehrplan abweichen, eine eigene Schule zu errichten und zu finanzieren. Am Ende setzte sich Rabbiner Lichtigfeld gegen alle Kritiker durch.

„Kultureller Mix sehr wichtig“

Insgesamt 30 Kinder besuchten 1966 die neue Schule, davon zwölf die erste Klasse, die übrigen eine zweite. Zwei Lehrerinnen kümmerten sich um die Schüler, die nicht-jüdische Leiterin Ruth Moritz, die vom Stadtschulamt abgestellt wurde und eine Religionslehrerin.

„Sie war eine blonde, ganz korrekte und sehr strenge Frau“,

erinnert sich Pava Raibstein an die Schulleiterin. Dennoch habe sie sich in der Schule sehr geborgen gefühlt, auch wenn ihr zugleich bewusst wurde, wie anders sie war im Vergleich zu den Nachbarskindern.

„Während sie zu Fuß in ihre Schulen gingen, wurden wir mit dem Taxi von zu Hause abgeholt. Und auch damals waren die Fenster im Gebäude schon vergittert.“

Die vier Jahre auf der jüdischen Schule hätten ihr ein starkes Rückgrat gegeben, sagt sie heute und hat deshalb auch ihre eigenen Kinder die Einrichtung besuchen lassen. „Ich war damals stark genug, mit zehn Jahren auf die Musterschule zu gehen.“

Pava Raibstein erinnert sich auch, dass mindestens zwei nicht-jüdische Kinder mit ihr eingeschult wurden. Damit knüpfte die Institution an eine lange Tradition jüdischer Schulen in Frankfurt an. Bereits das 1804 in Frankfurt gegründete Philanthropin, das bis zur Schließung durch die Nationalsozialisten im Juli 1942 als wohl bedeutendste jüdische Bildungsstätte auf deutschem Boden galt, nahm von Anfang an christliche Schüler auf. Heute liegt der Anteil nicht-jüdischer Kinder an der I.E. Lichtigfeld-Schule bei rund 20 Prozent, wie die derzeitige Schulleiterin Noga Hartmann betont.

„Wir haben unter unseren rund 400 Schülern welche mit christlichem, atheistischem, muslimischem und buddhistischem Hintergrund. Dieser kulturelle Mix ist sehr wichtig für uns. Unsere Schüler sollen ihre Identität finden, aber auch lernen, Staatsbürger der Welt zu sein.“

Neue Generation deutscher Juden

In den ersten beiden Jahrzehnten nach der Gründung der Einrichtung waren die Schülerzahlen aufgrund des guten Rufs der dortigen Ausbildung schnell angestiegen. Das Gebäude an der Synagoge wurde zu klein, so dass die Schule 1986 ins Gemeindezentrum in der Savignystraße umzog. Die Förderstufe mit den Klassen fünf und sechs wurde dort eingeführt. Mit dem Zerfall der Sowjetunion Ende der 1980er Jahre und den vielen russischsprachigen Familien, die von dort auch nach Frankfurt kamen, zeichnete sich plötzlich ab, dass die Dimensionen für maximal 200 Schüler erneut zu gering bemessen waren. Die Stadt bot der Schule schließlich an, in das historische Gebäude des Philanthropin in der Hebelstraße umzuziehen. 2004 wurde der Gemeinde das Haus symbolisch zurückgegeben, zwei Jahre später konnte die Einrichtung, nun als Ganztagsschule mit Gymnasial-Angebot bis zur neunten Klasse, an historischer Stätte weitermachen.

„Die Rückkehr in das Haus bedeutete das Anknüpfen an die bürgerliche und gut integrierte Frankfurter Vorkriegsgemeinde und den Anfang des Entstehens einer neuen Generation von deutschen Juden“, betont Alexa Brum.

Einzige jüdische Schule in Hessen

Heute wird die Schule für ihre familiäre Atmosphäre geschätzt. „Wir haben kleine Klassen, die Familien engagieren sich, Feiertage werden gemeinsam begangen“, nennt Noga Hartmann einige Beispiele. Nach wie vor stehen Neuhebräisch, jüdischer Kultur- und Religionsunterricht auf dem Lehrplan. Besonderes Augenmerk wird neben dem Leistungsanspruch auf die Werteerziehung gelegt. So suchen sich die Schüler selber Sozialprojekte aus, pflegen vergessene Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof oder haben kürzlich ein Programm für den Deutschunterricht von Flüchtlingen entwickelt.

Auch im 50. Jahr des Bestehens geht die Entwicklung der einzigen jüdischen Schule Hessens weiter.

„Wir haben vor, eine gymnasiale Oberstufe aufzubauen. Wir hoffen, dass alle eingeleiteten Maßnahmen dazu führen, dass diese mit dem Schuljahr 2018/19 beginnen kann“, verkündet die Schulleiterin.

Geplant ist dafür ein Schulneubau am Gemeindezentrum, in den die gesamte Grundschule einziehen soll. Somit wird Platz geschaffen für die Gymnasiasten im Philanthropin. Zunächst aber wird das Jubiläum der Schule am 13. Juli gefeiert.

„Es gibt einen offiziellen Teil, wir machen einen Projekttag und dann eine richtige Party für Schüler, Eltern und auch die ehemaligen Schüler“, freut sich Noga Hartmann.

Auch eine Ausstellung über die drei Standorte der Schule soll es geben.

Die Gäste, die dann ins Philanthropin kommen, laufen im Eingang an einer Marmortafel vorbei, die an den Rabbiner Lichtigfeld erinnert und aus seinem Todesjahr 1968 stammt. Sie ist von einem zum anderen Standort mit umgezogen. „Mein Vater war Steinmetzmeister, er hat sie damals angefertigt“, erzählt Pava Raibstein und freut sich, dass damit auch ein Teil ihrer alten Schule den Weg in die neue gefunden hat.