Rede von Oberbürgermeister Michael Kissel anlässlich der Gedenkfeier am 21. Februar 2012 auf dem Hauptfriedhof (Gräberfeld der Opfer der Bombenangriffe)

Zum Gedenken an die Opfer beim Bombenangriff am 21. Februar 1945 hielt der Wormser Oberbürgermeister Michael Kissel eine Rede auf dem Hauptfriedhof.

Beim Angriff englischer Bomberverbände auf Worms am 21. Februar 1945 starben 239 Menschen, beim Angriff amerikanischer Verbände am 18. März 1945 verloren nochmals 141 Menschen ihr Leben. Nahezu zwei Drittel der Innenstadt wurden zerstört.

Die beiden Schreckensereignisse prägten die Erinnerung vieler Wormserinnen und Wormser, die am Leben blieben. So sind in den vergangenen Jahren immer wieder Kindheitserinnerungen entstanden, die sich mit diesen Ereignissen beschäftigen und sie zu bewältigen und zu verstehen versuchen.

In einem dieser Texte, der im Heimatjahrbuch 2007 abgedruckt ist, heißt es: „Ich sah gebannt in die Flammen und blieb stehen. Sie zogen mich an, und ich konnte verstehen, dass ein Mensch so gefesselt ist, dass er hilflos stehen bleibt und keinen Weg ins Freie mehr findet. Man spürt die Faszination der Flammen und ihre Macht.“

Der Macht der Flammen entspricht die Ohnmacht des Betrachters. Schmerz und Trauer folgen. Und das Leiden der Betroffenen am Verlust von Familienangehörigen und Freunden, die Bestürzung über die zerstörten Häuser und all das, worin man sich heimisch fühlte, spricht unser Mitgefühl an.

Was danach begann, war der Wiederaufbau, den Willi Ruppert in einem Buch mit dem Titel „Und Worms lebt dennoch“ beschrieb. Ganz ähnlich titelte Carl Zuckmayer im amerikanischen Exil seinen Nachruf auf seinen Freund Stefan Zweig, der sich in Brasilien 1942 aus Verzweiflung über den Massenmord des nationalsozialistischen Deutschland selbst getötet hatte, mit „Aufruf zum Leben“, und er bezog sich dabei auf „jedes einzelne Leben, einmalig und einzig in eines Menschen Leib und Seele geprägt“.

In Worms wurden Wohnhäuser gebaut, Geschäftshäuser, Kirchen. 1958 war nach zwei Jahren Bauzeit das Rathaus in seiner heutigen Form wieder hergestellt. Oberbürgermeister Heinrich Völker, den die Nazis als politischen Gegner über 18 Monate inhaftiert hatten, ließ über dem Eingang den Satz anbringen: „Demokratischer Geist schuf diesen Bau.“

1961 wurde die von den Nazis 1938 zerstörte Synagoge nach drei Jahren Bauzeit wieder eingeweiht. In der Gemeinschaft der überlebenden Wormser Juden gab es aus jeweils gut nachvollziehbaren Gründen Befürworter und Gegner eines Wiederaufbaus. Die Befürworter bezogen sich auf eine jahrhundertealte Tradition der Wormser Juden, die auch nach den Pogromen des Mittelalters ihre Synagoge immer wieder aufbauten, um die jüdische Überlieferung ihrer Gemeinde nicht abreißen zu lassen. Und sie befürworteten das, auch wenn damals nur wenig Juden in Worms lebten. Heute hat die Jüdische Gemeinde Mainz die Nachfolge der alten jüdischen Gemeinde Worms angetreten und hält wieder Gottesdienste in der Wormser Synagoge ab.

Der Rassismus und Chauvinismus der Nationalsozialisten richtete sich – weit mehr als in früheren Kriegen zwischen Staaten – in großem Maß gegen die Zivilbevölkerung, seien es Minderheiten oder andere Völker. Aber auch die deutsche Mehrheitsbevölkerung wurde für die kriminellen Interessen des NS-Staates instrumentalisiert. Gegen Ende des Krieges wurde das vor allem in Stalingrad deutlich. Goebbels mobilisierte für einen „totalen Krieg“ – total meinte eben die komplette Einbeziehung der Bevölkerung -, Göring feierte den Tod tausender deutscher Soldaten als heldenhaften Untergang der Nibelungen und Hitler verweigerte den deutschen Generälen mehrfach den Ausbruch aus dem Kessel.

Der Artillerie-General Walther von Seydlitz-Kurzbach, der diesen Ausbruch bereits im November 1942 vergeblich forderte, stellte im Januar 1944 in russischer Kriegsgefangenschaft fest: „Die 6. Armee ging in Stalingrad zugrunde, weil sie auf Befehl Hitlers in aussichtsloser Lage einen militärisch sinnlosen Widerstand fortsetze. Hunderttausende von Kameraden, die uns lieb und wert waren, wurden geopfert…Es ist nicht unehrenhaft, sondern ein Gebot der Erhaltung unseres Volkes, wenn ihr euch weigert, den Krieg in aussichtsloser Lage weiterzuführen.“

Neo-Nazis und ihre Hintermänner versuchen heutzutage, das Gedenken an die Opfer der Bombenangriffe für ihre rechtsextremistische Propaganda zu missbrauchen und die Ursachen-Wirkungs-Zusammenhänge umzudeuten.

Deutschland begann bereits zu brennen, als die Nazis 1938 die Synagogen anzündeten und später polnische, russische und englische Städte bombardierten.

Die Fortsetzung des Krieges in aussichtsloser Lage, des so genannten totalen Krieges, war es schließlich, die 1944/45 zu den Bombenangriffen auf deutsche Städte führte.

Und warum verfolgte die NS-Führung diesen Weg? Weil Hitler, Goebbels, Göring und Himmler wussten, dass sie im Namen des deutschen Volkes einen unfassbaren Massen- und Völkermord an Menschen in ganz Europa befohlen und organisiert hatten. Die deutsche Bevölkerung wurde als Schutzschild für Massenmörder mobilisiert und bedenkenlos geopfert.

Insofern hängen die Erinnerungen am 27. Januar an die Befreiung des KZ Auschwitz, am 21. Februar an den Bombenangriff auf Worms, am 20. Juli an den militärischen Widerstand, am 9. November an die Zerstörung der Synagogen und am Volkstrauertag an die Kriegstoten und Opfer der Gewaltherrschaft aller Nationen miteinander zusammen.

Unser Mitgefühl gilt den Opfern als einzelne Menschen. Die politische und moralische Einordnung ist klar: Die Nazis und ihre Handlanger sind nicht nur schuld am Massen- und Völkermord in Europa, sondern auch am Untergang von 1945. Ihre Gegner sorgten für die Befreiung von 1945; zu ihnen gehört auch der deutsche Widerstand, der die Befreiung zuvor vergeblich versuchte.

Daher ist es nicht nur eine Position des Menschenrechts, den Neonazismus von heute in all seinen Schattierungen daran zu hindern, Einfluss auf Staat und Gesellschaft zu gewinnen. Es ist auch eine Position der Vernunft, die selbst-zerstörerischen Kräfte dieser im Grunde alle Menschen verachtenden Ideologie nicht zum Zug kommen zu lassen.

„Der Wormser Bürgerschaft ging es immer dann gut, wenn es gelang, das Potenzial der vor Ort zusammentreffenden Kulturen und Religionen in einen kreativen Dialog zu führen.“ Mit diesem Satz beginnen die „Grundsätze der Menschenrechtsarbeit“, die der Wormser Stadtrat am 2.Mai 2007 einstimmig beschlossen hat. Damit knüpft er an den demokratischen Geist des Aufbruchs an, wie ihn etwa Willi Ruppert, Carl Zuckmayer und Heinrich Völker vor mehr als 50 Jahren formuliert haben.