Pars pro Popo – die verschwommenen Welten des Miroslav Tichý

Was Charles Bukowski für sich in Anspruch nahm, darf auch für einen – beinahe – vergessenen tschechischen Künstler und Fotografen gelten: Kunst von Clochards. Seine kleine Retrospektive, die fast ausschließlich unbekanntes Fotomaterial zeigt, „Stadt der Frauen“ zu nennen, scheint allerdings unangemessen. Natürlich erinnert der Name an einen der berühmtesten, nicht unbedingt besten, Filme des großen Federico Fellini, aber er ist nicht Programm. Er fasst allerhöchstens zusammen, was Tichý offenbar am liebten fotografierte, nämlich Frauen, hier von diesen sehr gerne die Rückseite,

Dennoch ist deswegen seine Heimatstadt Kyjov in der Provinz keine Stadt der Frauen, wie einst das Paris der Zwanziger Jahre genannt wurde, sondern eine ganz normale kleine Stadt, mit Straßen, Plätzen, und einem Schwimmbad. Hier hielt sich der Künstler besonders gerne auf, fotografierte seine Objekte heimlich aus dem Schatten heraus, wodurch ein nicht zu übersehender voyeuristischer Aspekt in sein Werk kommt.

Wie zufällig in der Auswahl des Ausschnittes geschossene Lomografien wirken seine seltsamen Momentaufnahmen, die aus einer komplett anderen Welt eines Menschen zu kommen scheinen, der unter psychischen Problemen litt.

Einblicke in den Kopf eines verwirrten Mannes, den das kommunistische Regime zu brechen versucht hatte.

So besuchte der 1926 geborene Künstler in den späten 1940er Jahren die Kunstakademie Prag und galt als talentierter Maler und Zeichner Nach der Machtübernahme durch die Partei veränderte sich sein Leben. Als deren Gegner verbrachte er acht Jahre in Gefängnissen und psychiatrischen Einrichtungen. Nachdem er in seine Heimatstadt Kyjov zurückgekehrt war, verbrachte er von da an seine Tage in der südmährischen Provinz. Er wohnte zeitlebens bei seinen Eltern, war mit den Künstlern und Oppositionellen des Ortes befreundet und entzog sich erfolgreich dem sozialistischen Ideal. Er wurde dabei zum Außenseiter und nahm Züge eines Obdachlosen oder Landstreichers an. Er trank viel, wusch sich nicht mehr und seine Kleidung bestand aus Lumpen, schließlich verlor er sein Atelier.

Er begann, sich der Fotografie zu widmen, ohne Fotoapparat, von den 1950er bis in die 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts.

Er stellte dafür auch ein paar eigene Kameras her, mit Linsen aus alten Brillengläsern oder geschliffenem Plexiglas, Objektiven aus Toilettenpapierrollen oder Konservendosen, Gehäusen aus Pappe, die mit Teer und Kaugummi zusammengehalten werden und einem Auslöser aus einem alten Gummiband.

Mit diesen Kameras machte er sich zeitweise täglich auf die Suche nach seinen Motiven. In erster Linie waren es Frauen, über in der Stadt, wo er sie gerade sah und vorfand. Und dies weitgehend heimlich und auch unbeachtet von der Kunstszene.

Seine Vorliebe für Frauen und ihre Körper wird von manchen Kritikern auch als Hommage an die weibliche Figur bezeichnet. Er selbst sagte, er stelle nur dar, was wirklich sei. Bemerkenswert ist auch die reine Menge an Fotografien, die Tichý gemacht hat. So hatte er über Jahrzehnte hinweg die Maxime, täglich eine bestimmte Anzahl an Bildern zu schießen, lange Zeit waren das 3 Filme à 36 Bilder pro Tag.

Die verschwommenen und verwaschenen Fotografien entwickelt er selbst, auf ihnen finden sich so gut wie immer Bromflecken, Fingerabdrücke oder auch das ein oder andere Mal eine Fliege. Das alles gehört Tichýs Meinung nach zur Kunst dazu. Die Bilder selbst klebt er meist auf Pappe und malt ihnen manchmal mit Filzstiften bunte Rahmen. Hin und wieder "verbesserte" er die Bilder auch durch Nachzeichnen einiger Linien, z.B. der Augenbrauen oder der Beine. So entstanden ausschließlich Unikate

Der Raum für Fotografie der REM in Mannheim, ZEPHYR, zeigt eine analytische Schau mit bislang überwiegend ungezeigten Aufnahmen mit dem Fokus auf dem ästhetischen Phänomen Tichý.

Erst 2004 erschien der Fotograf wie ein Komet mit seinem unerhörten Oeuvre am Kunsthimmel: Harald Szeemann hatte sein singuläres Werk auf der Biennale in Sevilla präsentiert und Tichý war mit einem Mal in aller Munde. Die Kunstwelt staunte, wie es sein konnte, dass ein derart moderner Fotograf in bitterer Armut, drangsaliert von den lokalen Autoritäten und trotz seelischer Probleme ein so beeindruckendes Oeuvre erstellen konnte und niemand davon wusste.

Fortan kümmerte sich eine Stiftung in Liechtenstein um sein Werk. Galeristen in aller Welt vertrieben seine Fotografien. Museumsausstellungen in Zürich, Paris, New York oder Moskau faszinierten die Medien. Doch trotz seines plötzlichen Ruhms beharrte Miroslav Tichý auf seinem zurückgezogenen und asketischen Leben in materieller Armut und versuchte sich bis zu seinem Tod der Inbesitznahme seitens der Kunstwelt zu verweigern.

Die sehr empfehlenswerte Ausstellung Die Stadt der Frauen stellt mit etwa 140 Werken von Privatsammlungen aus der Schweiz, aus Tschechien, Frankreich und Deutschland den visionären Künstler Miroslav Tichý einem interessierten Publikum dar, das den Tschechen sicher bisher noch nicht kannte.

Der begleitende Katalog recherchiert erstmals unabhängig Tichýs Leben und Kunst anhand gesicherter Quellen und unabhängiger Zeitzeugen und untersucht die kunsthistorische Rezeption und ästhetische Strahlkraft des Phänomens Miroslav Tichý. So gelang es, sein Leben in relevanten Teilen neu zu erzählen. Hinter dem schwer fassbaren Mysterium Tichý erschien ein intelligenter, gebildeter und freiheitsliebender Künstler, der sich radikal gegen jede Vereinnahmung zu wehren versuchte.

ZEPHYR/ Raum für Fotografien C4, 9, Mannheim bis 26.5. 2013